Amelie Kahl

all regrets

lately i am regretting things
indiscriminately

eating strawberrys in spring or
buying bitcoin during the peak or
doing my ex in 2016 but

at least i was doing
something cos

yesterday i did nothing and
i regret that too
:-/

confessions

confessing in english is easier
than confessing in german

there should be therapy in english
for germans

i once thought i liked spicy food
but

lately i think i don’t

i am sorry

Triggerwarnung

A: Alle wollen immer
anders anders anders
cool außergewöhnlich besonders krass sick einfach unglaublich wow
ein Wunderkind wie kann ein Mensch so einzigartig und nice sein
so schöne Nägel so unglaublich schöne Nägel wo sie die nur wieder her hat
nicht die Nägel sondern die Idee sie ist so cool so anders sie sieht so außergewöhnlich aus so schön die Haare sie ist ein Genie im Kopf
Sie ist so
schlau schlau schlau
die schlauste Person der Welt schlauer als Angela Merkel schlauer als alle
sie kennt alle Wörter sie weiß wie man sie benutzt so dass sie besonders gut klingen sprachlich so wortgewandt und
lustig lustig lustig
ich muss so viel lachen sie hat so viel Humor und so viel Witz sie könnte Stand Up machen aber sie muss auch nicht haha
ihre Gags sind schlau und lustig und cool und sympathisch sie ist eine so außergewöhnliche Person sie sagt so besondere Dinge und ist so
kreativ kreativ kreativ
sie hat die neuesten Ideen von allen sie sind so frisch ich habe sie noch nie gesehen und sie singt besser als alle sonst singen so toll 

ihre Mutter ist bestimmt stolz auf sie

Sie
baut baut baut
Regale von Ikea besser als die Menschen in der Hornbach Werbung sie kennt alle Anleitungen auswendig sie weiß genau welche Schraube sie braucht um zwei Teile zusammen zu schrauben sie hat einen Koffer mit allen Geräten die man braucht um ein Haus zu bauen
sie hat einen Bohrer und einen Akkuschrauber sie leiht mir alles weil sie alles hat
sie ist so stark sie hebt Dinge wie ein starker Mensch ihre Eltern merken gar nicht dass sie eine Tochter haben so wie sie baut und
schraubt schraubt schraubt
so selbstständig und anders als die anderen Töchter sie hat Muskeln
sie liebt Mathematik sie kann räumlich denken wie ein echter Sohn so
stark stark stark
alle bewundern sie als Kind hat sie am liebsten Home Improvement gesehen
wie ein echter Sohn und Holz gehackt und ihre Hammer poliert und viel Liebe gemacht
alle Menschen müssen sie lieben sie ist so beliebt und sie weint nie außer in Therapie
da wird geweint und sie ist die beste in Therapie sie ist so toll 

ihr Vater ist bestimmt stolz auf sie

Sie
wächst wächst wächst
sie ist so reflektiert und schlau so emotional und in ihren Gefühlen
sie weiß genau was sie will und was nicht sie kennt sich auswendig sie weiß alles über sich
sie ist sich selbst am Nächsten sie ist so empathisch sie hört am besten zu
sie erzählt die schönsten Geschichten sie beantwortet alle Fragen sie macht alles richtig
keiner könnte sauer auf sie sein
sie entschuldigt sich genug aber nie zu viel sie ist so selbstbewusst so in sich ruhend
sie arbeitet so viel an sich und kennt sich ganz genau
sie kriegt keinen Krebs weil sie
heilt heilt heilt
sie ist so weich und gefühlvoll und sie liebt sich so sehr
sie umarmt sich regelmäßig weil sie sich so liebt sie weiß wer sie ist
so zart und traurig und glücklich und
weich weich weich
sie kennt ihre Kindheit auswendig sie spricht offen über sich sie manifestiert sie meditiert
sie ist so befreit sie hat ihre Eifersucht und Traumata überwunden
auch ihr Herz ist so offen und groß aber nicht zu groß 

keine Mauern aber Grenzen sie kennt ihre genau sie ist so toll 

ihr inneres Kind ist bestimmt stolz auf sie

B: Wer ist „Alle“ und wer ist „Sie“?

Der mittlere Mensch

Erschienen im Apollon Dossier.

Wer ist eigentlich normal? Und zwar: faktisch. Wer ist in Deutschland normal? Wer ist nicht normal? Wie viele Kinder hat ein normaler Mensch? Was verdient ein normaler Mensch? In Haßloch, einem Ort, der durchschnittlicher nicht sein könnte, muss es sie geben: normale deutsche Personen. Auf der Suche nach dem Durchschnittsmenschen.

21.000 Einwohner leben im größten Dorf Deutschlands – in Haßloch, einer Gemeinde im Landkreis Bad Dürkheim, irgendwo in Rheinland-Pfalz. Der Durchschnittspreis für eine Übernachtung im Doppelzimmer eines Dreisternehotels liegt hier aktuell bei 92 Euro. »In Haßloch ist immer etwas los«, heißt es auf der Webseite des Mittelzentrums. In der Tat scheint hier etwas los zu sein: von Konzerten und Lesungen bis zu feierlichen Höhepunkten wie den Leisböhler Weintagen. Haßloch, hier geht’s Deutschland gut.

Das Besondere an Haßloch sind jedoch nicht die Leisböhler Weintage. Das Besondere an Haßloch ist seine Durchschnittlichkeit. 49 Prozent Männer, 51 Prozent Frauen (Zahlen diverser Geschlechter werden nicht erhoben). Das Durchschnittsalter in Haßloch liegt bei genau 46 Jahren. Diese demographischen Werte Haßlochs sind so mittelmäßig, so durchschnittlich, dass der Ort, seine Struktur und Größe als universales Abbild Deutschlands gilt. Deshalb ist Haßloch nicht nur ein unauffälliges Dorf der übermäßig weißen Mittelschicht – hier wird auch getestet, was diese kauft. Die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) betreibt in Haßloch einen bundesweit einzigartigen Test-Supermarkt, bei dem sich aus den rund 10.000 Haßlocher Haushalten 3000 Freiwillige beim Einkauf ins Portemonnaie blicken lassen.

So kaufen hier Singles, verheiratete Paare, Rentenbeziehende und Arbeitslose ein – per GfK-Chipkarte, die ihre Einkäufe trackt. Sie entscheiden, welche Zahnpasta, welches Klopapier und welches Müsli es in die Supermärkte Deutschlands schaffen und welche Konkurrenten aus den Regalen verschwinden. Jury ist hart. Berühmt für ihre Durchschnittlichkeit und Markentreue wird sie voraussichtlich nur 30 Prozent der Produkt-Neuanwärter in die nächste Runde lassen. An ihren TV-Gewohnheiten entscheidet sich zudem, was im Fernsehen läuft. Denn Haßloch, das ist dieser Ort mit den kleinen Boxen neben dem Fernseher. Die Boxen sind Messgeräte der GfK, die in zwei Dritteln der Haßlocher Haushalte stehen. Sie dokumentieren fein säuberlich das Konsumverhalten ihres Gegenübers, das vielleicht gerade von der Arbeit heimkommt und den Fernseher einschaltet, um selbst abzuschalten.

Doch bei wem genau stehen eigentlich diese Boxen, die ganz Deutschland abbilden sollen? Mit seinem Film »Free Rainer – Dein Fernseher lügt« , stellte Hans Weingartner 2007 Fragen an die Werbeindustrie: Wer ist überhaupt die Mehrheitsgesellschaft, die Deutschland abbildet? Wie akkurat ist die Auswahl der Testpersonen? In einem Interview zum Filmstart sagte Weingartner dazu: »Es stehen keine Boxen bei Ausländern. Zweitgeräte werden nur zu einem Bruchteil erfasst, also auch kaum Jugendliche. Es gibt viele Schwachstellen. Warum die Werbewirtschaft das einfach so hinnimmt, ist mir ein völliges Rätsel. Ich habe mit vielen Verantwortlichen gesprochen, der Tenor lautet: Es war schon immer so, es gibt nichts anderes.«

Unrecht hat Weingartner mit seiner Kritik bis heute nicht: So gilt Haßloch zwar als kleines Abbild Deutschlands, doch nur 8,5 Prozent der Haßlocher haben einen Migrationshintergrund. In der deutschen Gesamtbevölkerung sind es allerdings rund 26 Prozent. Die Frage, die so offensichtlich im Raum herumsteht, ist also: Wer ist diese durchschnittliche Bevölkerung Deutschlands? Wer bildet den repräsentativen Querschnitt? Was also ist normal?

Normalität ist ein Begriff, der historisch gesehen erst vor recht kurzer Zeit Einzug in unseren Wortschatz fand. Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb der deutsche Psychiater Wilhelm Griesinger in seinem Buch »Die Pathologie der Therapie der psychischen Krankheiten« Normalität so: »Alles, was ein Vorherrschen der Fantasie, was körperliche und psychische Weiblichkeit (…) veranlassen könnte, müsste entfernt gehalten, es müsste immer so viel als möglich auf die einfachsten, geordnetsten äußeren Lebensverhältnisse,(…), auf Gewöhnung an Unterordnung unter objektiv gegebene Verhältnisse gesorgt werden.« (1861, S. 475)

Uff. Fantasie und Weiblichkeit entfernen, Unterordnung unter gegebene Verhältnisse – wenn man diesen Maßstäben nachgeht, die die AfD jüngst noch für ihre Werbekampagne »Deutschland. Aber Normal« instrumentalisierte, meint der Begriff »Normalität« keinen einfachen Durchschnitt. Vielmehr handelt es sich bei ihm um ein idealistisches Konstrukt, das erst im Verhältnis zur Abweichung entstehen kann. Umgedreht also: Wenn es keine Abweichung gibt, kann auch keine Normalität entstehen. Der psychiatrische Kollege Richard von Krafft-Ebing schloss sich seinem Vorredner im Jahr 1885 an. Auch er konzentrierte sich beim Formen des Begriffs Normalität auf das Abweichende, von dem man sich für ein züchtiges Leben fernzuhalten habe: »Vor allem vermeide man alles, was die Sinnlichkeit wecken könnte. Viel und gut essen, Genussmittel, Stubensitzen, Stadtleben, Romanlesen, Tanzstunde, frühe Einführung in das Leben der Gesellschaft sind schädlich.« (S. 99)

Die Abweichung vermeiden: Dafür stellte der französische Mathematiker Adolphe Quetelet mit seinem idealtypischen »homme moyen«, dem »mittleren Menschen«, ein Konzept der Normalität vor. Geboren wurde dieser frühe Normcore-Prototyp gleichfalls Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Versuch heraus, eine einheitliche Rationierung an Nahrung und Kleidung schottischer Soldaten zu erstellen. Ein sicherlich praktischer Hintergrund – mit ideologischen Implikationen. Quetelets »mittlerer Mensch« war das, was bis heute als normativ gilt. Er – männlich gelesen – war kein durchschnittlicher Wert der französischen Diversität. »Er« war das Vorbild. »Er« war, wie man zu sein hatte. Zuchtvoll, stark, erfolgreich, schön. Bei der Recherche nach der Normalverteilung für militärische Ausrüstung hörte es nicht auf. Quetelet war hooked. Er untersuchte menschliche Eigenschaften, Lebensweisen, Hobbys, Aussehen. Bis hin zur Kriminalität, deren Vorkommen sich durch spezifische gesellschaftliche Eingruppierungen erklären ließe – so war der Mathematiker ein Vordenker der Rasterfahndung, durch die das Besondere gegenüber dem Normalen ausgesiebt werden soll. Da haben wir sie wieder: die Abweichung, die der Norm erst ihre Struktur, letztlich ihre Daseinsberechtigung gibt. Wenn es nach dem französischen Statistiker geht, so ist die Abwesenheit herausstechender Eigenschaften eine Form von Schönheit. So stellte der »mittlere Mensch« keinen Durchschnittstypen dar, sondern den Idealtypus des Menschen.

Das Happy End 

Erschienen in SLEEK 72 – LOVE.

Das Konzept der romantischen Liebe ist patriarchal geprägt – und doch streben wir nach ihr. Zwar ist sie in der westlichen Welt dominant, sollte jedoch nicht der einzige Weg sein. Ein Plädoyer für mehr Mut in Beziehungen. 

„Where love’s unwilled, unleashed, unbound. And half the perfect world is found.“. Die Verbindung zwischen zwei Seelenverwandten, die alle Hindernisse übersteht. Das bedingungslose Versprechen einander, zusammen zu bleiben: Die romantische Liebe gilt als sinnstiftendes Happy End einer langen Suche. Wer sie endlich finden darf, ist befreit von einer zehrenden Sehnsucht. Denn die romantische Liebe ist alles, wonach viele Menschen streben. Nach einem harmonischen Konzept, das aus zwei „besseren“ Hälften besteht, welche gemeinsam ein Ganzes ergeben. Einem monogamen, heteronormativen Ganzen. 

Diese vermeintlich perfekte Beziehung verlangt dem Individuum einiges ab. Die Erwartungen an sie sind enorm. So groß, dass sie unerreichbar scheinen. Die große Liebe soll die sexuellen Bedürfnisse in Form einer leidenschaftlichen Zuneigung stillen, bedingungslos sein, partnerschaftlich, Kinder hervorbringen, und das, mit allem Drum und Dran. 

Dabei ist das Konzept der romantischen Liebe ein patriarchal geprägtes Konzept, das Co-Abhängigkeit mit Liebe verwechselt. Das macht die großen fünf Buchstaben in erster Linie nicht romantisch, sondern politisch. Das Konzept der monogamen und heteronormativen Ehe unter den Schleier der romantischen Liebe zu stellen, ist möglich, fußt jedoch auf einer patriarchalen Ausbeutung. Die geschlechtliche Ungleichheit ist unter Anderem der Idee zu schulden, dass weiblich gelesene Personen dem privaten Raum zugeordnet werden – also dem Zuhause. Ihnen wird also die Hausarbeit zugeschrieben sowie die Care-Arbeit, während sich dadurch männlich gelesene Personen der Öffentlichkeit widmen können. Der öffentliche Raum geht mit einher mit Politik, Geld und Macht. Dieses Machtgefälle wirkt irgendwie veraltet, ist jedoch bis heute – das muss ich wahrscheinlich nicht nochmal groß erwähnen – existent. 

Die US amerikanische Wissenschaftlerin kapitalismuskritische Autorin bell hooks beschrieb unter Anderem genau das in ihrem Buch „Alles über Liebe“. In diesem persönlichen Werk stellt sich die feministische Kulturkritikerin die Frage, was Liebe bedeutet und wie eine lieblose Gesellschaft das Gefühl von Fürsorge und Gemeinschaft erlangen kann, ohne dabei festgefahrene Wege und starre Denkweisen zu verfolgen. Wie Menschen aufrichtig lieben lernen können, ohne diese mit „Romantik, Sehnsucht und Sex“ zu verschleiern.
„Was wir gemeinhin für Liebe halten“, so hooks „sei oft nur das willige Ableisten gesellschaftlicher Rollenerwartung. Fürsorgearbeit und Abhängigkeit werden als Liebe missverstanden. Die wahre Liebe müsse ein Handeln sein, das das eigene Recht und das des Anderen auf Freiheit und die bestmögliche Entfaltung seiner Möglichkeiten zum Ziel hat. Nur begünstige eben die patriarchale Ordnung eher gegenseitige Kontrolle und Machtausübung.“. 

In dem Buch „Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist“ bezieht sich auch Autorin Şeyda Kurt auf bell hooks bei der Formulierung ihrer Gedanken, wie offener und ehrlicher lieben können. In ihrem Werk macht sie auf „patriarchale, rassistische und kapitalistische Tradierungen in der Liebe“ aufmerksam. Dabei bezieht auch sie sich auf das Konzept der Romantik. Die heteronormative romantische Liebe sei zwar dominant in der westlichen Gesellschaft, sollte jedoch nicht als der einzig korrekte Weg gelten. 

Ein anderes Miteinander kann nicht nur möglich sein. Es ist bereits möglich und das in massenhaften Abwandlungen und Variationen. Ich plädiere für mehr Mut in Beziehungen. Für mehr Mut, andere Wege zu beschreiten. Beziehungen können in offenen Konzepten nachhaltig und stärkend sein. Ja, auch romantisch. Denn sie erfordern eine offene Kommunikation der eigenen Bedürfnisse sowie das Hinterfragen der eigenen Wünsche. Eine Offenheit in der Beziehung stellt den Anspruch an die Individuen, sich gemeinsam zu verändern und zu formen. Ein ehrliches, fürsorgliches und aufrichtiges Miteinander – zum Beispiel in Form von Polyamorie – kann das Konzept „Beziehung“ in einer Gemeinschaf ganz neu gedacht werden. Oder: Wer hat gesagt, dass Freundschaft nicht auch bedingungslos, familiär und sogar romantisch sein kann? 

„Where love’s unwilled, unleashed, unbound.(…)“, wer sich seinen Ängsten, Wünschen und Sehnsüchten stellt, kann neue Räume für die Liebe schaffen. Eine Liebe, die sich von Machtgefällen befreit. Eine gemeinschaftliche, aufrichtige, vielleicht auch romantische Liebe, die auf Augenhöhe stattfindet. Eine, die nicht auf Besitznahme und Verboten fußt, sondern auf Vertrauen, Fürsorge und Ehrlichkeit: 

„(…)And half the perfect world is found.“

malen nach zahlen

es wird wieder ge-
malen nach zahlen von 2 zu 3 die 4
es fehlt 1 zahl von 1 zu 2 etcetera plus
generell die 5 ein hundesohn wie soll ich
schreiben wenn die zahlen fehlen wie soll ich
lieben wenn die 5 auf reha i’m not here for you
steht auf deinem tanga in comic sans geschrieben
ohne komik i don’t need you blafft in deiner bio
wie soll ich malen wenn deine zahlen wie poker
karten dicht gepresst an deiner brust
mir keinen hinweis geben

das wetter

ein center shock in mein munde
um des wassers wegen brausende
tropfen tiefdruckgebiet 990hpa
sturmtief die kaltfrontokklusion 
zeynep spült synapsen vom gaumen
zu den augenbrauen hochs sind
teurer als tiefs sagt das wetter
unbehagen aushalten für sekunden
in mein munde um des etwas
fühlens wegen

lose yourself

today i lost my initial letter my
A my B my C i am afraid the
alphabet is on suspension

today no decisions are made only
feelings are felt and
texts are texted

today eminem is right because
to find yourself you have to
lose yourself first

Zen

Kaffeepause. Das ist die achte Kaffeepause, die ich heute mache und es ist noch nicht mal Mittag. Ich gieße mir lauwarmen Brühkaffee von Tchibo in meine Tasse. Sie ist von 2003 oder so, darauf zu sehen eine Diddlmaus. Die Tasse hat mir Andrea gegeben, meine Chefin im Rathaus meines Heimatdorfes. Sie gab mir die Tasse, da im Büro jede ihre eigene Tasse hat, weil was gibt es Schlimmeres, als wenn die Lieblingstasse am Montagmorgen nicht da ist. Das sagt die Andrea immer. Andrea sagt auch, dass ich an meinem Zen arbeiten muss, weil ich neulich heulend vor ihrer Tür stand und um einen Job im Rathaus flehte und sie halt nett wie immer – Bürgermeisterin halt. Sie kennt mich seit ich ein kleines Kind bin, meine Eltern haben sie früher immer zum Grillen eingeladen. Ich bin jetzt ihre Praktikantin und Yoga-Schülerin und bekomme 8.50 Mindestlohn, was mehr ist, als ich damals in der Bar in Berlin verdient habe (inklusive Trinkgeld) und Zen werde ich auch.

Sechs Tage die Woche habe ich in der Zauberinsel gearbeitet – die schlechteste Bar Berlins. Ich mochte es da aber, weil es war nie voll, weil sie so schlecht war und ich gehöre nicht zu den Menschen, die lieber viel arbeiten, weil die Zeit dann schneller rum geht. Ich arbeite lieber wenig, weil die Zeit vergeht beim Biertrinken genauso schnell. Ich habe in einer typischen WG in Neukölln gelebt. Mein Mitbewohnerin hat dreimal die Woche Keta zum chillen genommen und YouTube-Videos geschaut. Sonntags sind wir ins Berghain. Vintage-Shopping auf der Weserstraße. Das volle Programm eben. Außerdem hatte ich Java. Java war so schön, dass sich alle um uns herum gefragt haben, wieso wir zusammen sind. Inklusive mir.
Ich sehe okay aus, aber durchschnittlich. Den Durchschnitt gleiche ich auch nicht mit meinem Charisma aus. Dann sagen alle: Aussehen ist nicht alles. Aber das war gelogen. Aussehen spielt die größte Rolle, das wissen alle, das sagt nur keiner. Zumindest, wenn man die fehlende Schönheit nicht mit Charisma ausgleichen kann. Zwei Jahre lang habe ich versucht, gut auszusehen. Ich trug Jogginganzüge von Adidas, große Kreolen, Schlaghosen, diese kleine unpraktische Baguette-Tasche. Das volle Programm eben. Die ganze Berlin-Uniform 2019.

Nach zwei Jahren jedenfalls hat sich Java von mir getrennt, weil sich Java in ein Model verliebt hat. Das hat mich nicht überrascht und jetzt, wo ich die zwei so auf Instagram sehe, finde ich, macht das viel mehr Sinn. Die zwei sehen so schön zusammen aus, ohne Spaß. Komplett anders. Und so passend, dass ich nicht mal sauer auf Java oder Javas Model sein kann. Das Einzige was ich gesagt habe, als Java mit mir Schluss gemacht hat, war: „Danke für die schöne Zeit.“. Dann bin ich zurück ins Kaff. Denn Berlin an mir, das sah immer irgendwie falsch aus. Die Jogginganzüge sahen verkleidet an mir aus. Die kleine Handtasche ein bisschen lächerlich auch. Im Kaff hingegen sehe ich herausragend gut aus. Da reicht schon eine Jeans, die keine Röhrenjeans ist, und schon bin ich die rebellische Berlinerin. Keine Konkurrenz, keine Probleme.

Ich lebe nun bei meinen Eltern (übergangsweise) und stand neulich heulend vor Andreas Tür, weil so einfach war das alles nicht für mich. Am nächsten Tag durfte ich direkt anfangen und seit ein paar Wochen putze ich keine Biergläser in der Zauberinsel mehr, sondern Kaffeetassen im Rathaus. Hier auf dem Dorf spielt keiner in meiner Liga und ich mag den Zustand durchaus lieber als andersrum. Ich stehe jeden Freitagabend im Boomerang auf der Gästeliste, weil der Andi ist dort Türsteher und dem habe ich mit 16 mal einen geblasen. Heute ist der Andi zwar verheiratet und hat drei Kinder, aber er ist immer noch Türsteher im Boomerang, eine Win Win Situation also. Ich betrinke mich freitags im Boomerang, arbeite im Rathaus oder mache Yoga bei Andrea.

Die hat vor drei Jahren, kurz bevor sie Bürgermeisterin wurde, eine Ausbildung zur Yogalehrerin in Indien gemacht. Die Stunden gibt sie zu Hause und wenn wir montags und mittwochs um 15.00 mit der Arbeit fertig sind, gehen wir gemeinsam zu ihr und machen zwei Stunden Yoga. Dann meditieren wir auch und ich lerne Atemübungen um meine Trauer zuzulassen. Wir dehnen unsere Hüften und Andrea erklärt, dass es okay ist, wenn man dabei anfängt zu weinen, weil da Gefühle hoch kommen können. Das war bei mir jetzt noch nicht so. Manchmal hängt ihre Yoga-CD, das stört bei der Abschluss-Meditation etwas. Sie sagt, dass man sich von der Außenwelt in der Meditation nicht stören lassen darf und dass es gut ist, dass das gerade passiert ist. 

Am nächsten Tag sehe ich sie dann wieder in der Arbeit. Ich gebe zu, das nervt schon etwas. Die Andrea ist nett und so, aber sie riecht immer nach Kreuzkümmel und Räucherstäbchen und sie grinst so viel. Ihre Pullover sind meistens Grün und bei aller Liebe, aber Grün habe ich noch nie verstanden. Neulich gab es Zitronenkuchen, weil die Karin aus dem Dritten Geburtstag hatte und danach hat mich die Andrea in ihr Büro bestellt. Ich also hin und dann sagt die mir, dass sie mich unbefristet übernehmen möchte. Und da finde ich, ging ihre Nettigkeit doch zu weit, denn bisher habe ich dem Rathaus nichts gegeben außer frischen Wind (es stellt sich heraus: Je bemitleidenswerter meine Situation, umso besser mein Humor).

Ich stelle meinen Plastikteller mit den restlichen Zitronenkuchen-Bröseln drauf ab und setze mich. Das ist sehr freundlich, sage ich und dass ich etwas darüber nachdenken müsse. Dann wird sie ganz rot im Gesicht und schreit, dass ich langsam mal mein scheiß Leben auf die Reihe kriegen müsse, dass ich mit 30 nicht zurück in das scheiß Dorf ziehen soll mit den scheiß langweiligen Menschen, wo ich es doch schon bis nach Berlin geschafft hätte und dass ich eine armselige (das hat sie echt gesagt), traurige Gestalt meiner selbst bin. Dass ich außerdem fett geworden wäre und aufhören soll, diesen scheiß trockenen Zitronenkuchen zu essen – wer backt überhaupt Zitronenkuchen – und im Selbstmitleid zu versinken und dass mir echt keiner helfen kann. Dass sie mich sowieso nicht übernehmen möchte und dass die Unterkunft bei meinen Eltern niemals übergangsweise sein wird und ich aufpassen soll, weil am Ende heirate ich den Schuster Maxi und ich soll mich gefälligst verpissen aus diesem Dorf. Keiner würde hier sein wollen. 

Und da dachte ich mir in dem Moment, also so Zen, wie sie immer tut, ist die Andrea auch nicht.

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